„Vergessen ist eine Form von Freiheit“
25. Okt 2023 | Blog
VON Christina Kirisits
Diesem Zitat von Khalil Gibran geht das ausgesprochen lesenswerte Buch „Nincshof“ nach, dem ich diesmal meinen Blog widme: Die österreichische Schriftstellerin Johanna Sebauer spinnt ihre Geschichte rund um das fiktive, unweit des Neusiedlersees gelegene, Dorf Nincshof. Im hohen Schilf versteckt wurde der Legende nach, die Existenz dieses Dorfes über Jahrhunderte von der Außenwelt nicht wahrgenommen. Die Bewohner von Nincshof, insbesondere die Frauen, hüteten dieses Geheimnis sorgfältig, um ihre Unabhängigkeit von jedweder hierarchischer - sprich männlicher - und jeglicher kirchlicher Einmischung zu bewahren. Unerwünschte Eindringlinge werden erfolgreich mit Puztafeigenschnaps abgefüllt, und verzeichnen schlussendlich auf Karten ein Kreuz im Schilf mit dem Zusatz „nincs“, d.h. auf Ungarisch „gibt es nicht“! Erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg, mit der Trockenlegung der Sümpfe und dem Bau des Einserkanals erlangt die erstaunte Zivilisation Kenntnis vom Bestehen Nincshofs, und vorbei ist es mit Beschaulichkeit und Selbstbestimmung. Jahre der Kriegs- und Nachkriegswirren später unternehmen die Nincshofer “Waschweiber“ einen verzweifelten Versuch, ihr Recht auf „Vergessen werden“ durchzusetzen, scheitern aber am bereits festgezurrten Korsett der österreichischen Verwaltung.
Inspiriert von dieser Legende hat sich im heutigen Nincshof eine kleine Gruppe von sogenannten „Oblivisten“- abgeleitet vom lateinischen obliviosus, gleichbedeutend mit „vergesslich“ - gebildet, die es sich zum Ziel gesetzt haben, das Dorf wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwinden zu lassen: Ortsschilder und Wegweiser werden entfernt, Radfahrer mit Jauche vertrieben und Suchmaschinen ins Leere geführt. Doch dann lassen sich „Zuagroaste“ nieder und durchkreuzen die sorgfältig ausgearbeiteten Pläne der Oblivisten. Turbulente Ereignisse nehmen ihren Lauf…
Mich hat die Idee dieses Romans so angesprochen, dieses intensive Bemühen „vergessen zu werden“. Fällt Ihnen auf, wie diametral dies zu dem allgemeinen heutigen Heischen nach Aufmerksamkeit steht? Die große Jagd nach Klicks und Followern, nach dem spektakulärsten Foto und dem größten Aufreger - egal ob wahr oder nicht, Hauptsache man wird bemerkt – nichts ist schlimmer als übersehen oder sogar vergessen zu werden!
Anhand der Hauptcharaktere beleuchtet die Autorin deren unterschiedliche Herangehensweise an dieses Spannungsfeld von Vergessen und Erinnerung. Sie verarbeitet auch Erkenntnisse der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann, die in ihrem Buch „Formen des Vergessens“ festhält, dass in unserer jahrhundertelang gepflegten Erinnerungskultur leicht übersehen werde, dass nicht "Erinnern, sondern Vergessen der grundlegende Modus menschlichen und gesellschaftlichen Lebens" sei. Für das Erinnern bedürfe es einer aktiven Anstrengung, Vergessen hingegen geschehe grundsätzlich lautlos und scheinbar unspektakulär.
Vergessen kann aber auch ein aktiver Prozess sein, kann im Negativen Verdrängen bedeuten (z.B. der NS- Vergangenheit während der Adenauer- Zeit), und im Positiven ein Abschließen, das Raum für einen Neubeginn schafft. Oder wie im Fall von Nincshofs Oblivisten, eine Reaktion auf die Überforderung mit der Flut von Ansprüchen, die die heutige (moderne) Welt an uns stellt. Wobei dieser radikale Ansatz des vollständigen Rückzugs mit einer ordentlichen Portion Verklärung der Vergangenheit, in der alles beschaulicher und daher „besser“ war, verbunden ist.
Wenn man bedenkt, dass Vergessen seit jeher eher als ein Defizit und sowohl damals wie heute (siehe oben) das Löschen der Erinnerung an eine Person als höchste Strafe angesehen wird, erscheint Vergessen als angestrebter Zustand auf den ersten Blick befremdlich, unter bestimmten Umständen aber auch verständlich.
Tatsächlich kann man ja feststellen, dass sich nicht wenige Menschen in dem Zwiespalt befinden, dass sie sich gerade durch die Erfahrung der Corona-Lockdowns nach einem „Ausklinken“ aus dem Hamsterrad der Verpflichtungen sehnen, und es trotzdem nicht schaffen, eine Stunde ihr Handy beiseitezulegen.
Als einen anderen Aspekt derselben Thematik kann man auch das in der DSGVO fest geschriebene Recht auf „Vergessen werden“ sehen, das die legitime Erfassung und Speicherung von persönlichen Daten um das Recht auf Löschung derselben ergänzt. Da mag die Löschung von persönlichen Daten bei einem Telekom- oder Versicherungsunternehmen noch klar definiert erscheinen, doch um wieviel hilfloser steht man dem Ungetüm des digitalen Erinnerns im World Wide Web gegenüber: Dafür kann man, wenn man es nicht wie die Nincshofer Oblivisten in Eigenregie zustande bringt, inzwischen findige „Online Reputation Management“ Agenturen engagieren, um im besten Fall die Löschung unliebsamer Einträge zu erwirken. Da sich dies aber mit dem ebenso berechtigten Hinweis auf die Informationsfreiheit oder auf „Dokumente der Zeitgeschichte“ selten durchsetzen lässt bzw. eine gänzliche Löschung manchmal gar nicht möglich ist, wird zumindest versucht, die Zugänglichkeit durch Sperren oder durch gezielte Streuung zu erschweren.
Es zeigt sich also, wie schwierig sich eine Abwägung der unterschiedlichen Interessen darstellt. Soll man „leider“ oder „Gott sei Dank“ sagen, dass sich das Vergessen im Netz nicht ganz so einfach machen lässt, wie in der Geschichte von Johanna Sebauer suggeriert wird. Schmunzeln lässt einen schlussendlich mit welcher Liebe in Nincshof die Erinnerungskultur des „Vergessen-gewesen-seins“ gepflegt wird, auch wenn es doch „nur“ Legende gewesen sein sollte? Wie die Enkelin der Nincshofer Waschweiber-Revoluzzerin so schön zur „zuagroasten“ Journalistin sagt: „Sie immer mir Ihrer Wahrheit!“
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